Interview mit Tom Pinkall
Tom, Dipl.-Theologe, Systemischer Therapeut, Coach und Supervisor, MBSR-Lehrer & ACT-Trainer, Lehrtherapeut und lehrender Supervisor (SG, DGSF), lehrt Achtsamkeit in unseren Weiterbildungen.
SIA Berlin: Wie hast du die Achtsamkeit für dich entdeckt?
Tom: Mit einer Form der Meditationspraxis bin ich im ersten Semester meines Theologiestudiums in Berührung gekommen. Im Vorlesungsverzeichnis stand die Veranstaltung „Yoga und Zen“ von Michael von Brück, der unter anderem wichtige Bücher zum christlich-buddhistischen Dialog verfasst hat. Wir haben uns alle zwei Wochen mit alten Texten und Schriften beschäftigt. Ich hatte oft den Eindruck nicht viel davon zu verstehen, es war jedoch einfach ein gutes Gefühl dort zu sein und den Vorträgen und Diskussionen zu lauschen; in dieser Atmosphäre zu sein. In einem Gemeindehaus in der Nähe der Uni haben wir dann auch alle 14 Tage eine Einführung in Yoga und Zen-Meditation bekommen. Das war der Anfang. Das habe ich für mich dann wie als Hobby weitergeführt. Ich hatte stets eine gefühlvolle Verbindung dazu und gemerkt, wie wohltuend das für mich ist, auch wenn ich es – und das hat sich gar nicht grundlegend geändert – intellektuell nicht ganz verstanden habe.
Einige Jahre später hat dann ein Freund von damals, der heute ärztlicher Psychotherapeut ist, zu mir gesagt: “Weißt du, was wir damals in der WG gemacht haben, das mache ich jetzt mit Patientinnen und Patienten – ich atme jetzt beruflich.” Er erzählte mir von Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR).
Ich beschäftige mich daraufhin näher damit, nahm an einem ersten MBSR-Kurs bei Lothar Schwalm teil und dabei begegnete mir natürlich auch Jon Kabat-Zinn wieder, den ich Ende der 90er Jahre in Berlin zusammen mit seiner Frau Myla auf einer Lesung erlebt hatte. Das alles geschah zu einer Zeit in meinem Leben, als die Rückbesinnung auf Meditation als regelmäßige Praxis ein großer Halt war. Ich glaube, das eigene Erleben von Leid im Leben ist wirklich oft eine Wurzel für die Beschäftigung mit diesen Themen und dieser Praxis. Und das beeinflusste dann auch meine Beratungsarbeit und die Weiterbildungen. Ich merkte, dass ich auf andere, neue Dinge achte. Und für mich verband sich das hervorragend mit systemischem und konstruktivistischem Denken, Fragen der Wahrnehmung und den Prozessen wie wir von Wirklichkeits- zu Möglichkeitskonstruktionen gelangen können.
Was bedeutet Achtsamkeit heute für dich?
Ich würde es vielleicht eher “Mitkriegen-was-los-ist” oder “Offeneres-das-Leben-Erleben” nennen. So wie Jon Kabat-Zinn sein bekanntestes Buch im Original „Full Catastrophe Living“ genannt hat und nicht „Gesund durch Meditation“, wie die deutsche Übersetzung heißt. Es gibt eine schöne Definition von dem tibetisch-buddhistischen Lehrer und Freund, Choden. Er beschreibt Achtsamkeit im Buch „From Mindfulness to Insight“ als „Wissen, was geschieht, während es geschieht, ohne eine Erfahrung der anderen vorzuziehen.“ Schöner noch auf Englisch: „Knowing what’s happening while it’s happening, without preferences.”
Da steckt für mich viel drin, vor allem das mehr Mitbekommen des Lebens in Echtzeit, nicht erst in der Reflexion danach. Die Bewusstheit für Wahrnehmungen und die inneren Prozesse, die mit ihr einhergehen. Und der kleine Stachel in seiner Beschreibung: „without preferences“. Die Erinnerung daran, unvoreingenommener zu sein. Oder etwas milder: zu bemerken wie ich ständig Vorlieben und Abneigungen folge und Urteile fälle. Wenn wir mehr merken könnten, wie sich Stimmungen und Urteile bilden und es aushalten würden, diesen oft genannten Raum zwischen Reiz und Reaktion mehr wahrzunehmen, würden sich unsere Wahlmöglichkeiten in vielen Situationen vergrößern. Dafür kann auch Innehalten wichtig sein. Still werden. Der Welt und sich zuhören.
Achtsamkeit ist in den vergangenen Jahren ein Trend geworden, der diese Praxis auch zunehmend kommerzialisiert hat. Passt das für dich noch mit dem ursprünglichen Gedanken der Achtsamkeit zusammen?
Vorteilhaft daran ist, dass die Akzeptanz, sich mit Achtsamkeit zu beschäftigen, sehr gestiegen ist. Und dadurch erreicht diese Praxis nun auch Menschen, die sonst nie damit in Berührung kommen würden. Und die dann vielleicht überrascht sind und merken, dass ihnen das irgendwie in einer Phase ihres Lebens oder insgesamt helfen kann. In den Kursen merke ich aber auch, dass Achtsamkeit für einige Menschen so einen Anstrich von Sich-gut-fühlen oder Wellness bekommen hat, mit dem Ziel der Selbstoptimierung oder gar Heilung. Als wäre Achtsamkeit etwas, das wir anschalten könnten und dann geht es uns besser. Und als ob wir noch eine Prise Achtsamkeit bräuchten, um ganz zu sein. „Whole“, das ist eine etymologische Wurzel von Heilung. Und dieser Impuls ist ja total menschlich und auch verständlich. Aber wenn sich die Erwartungen an bestimmte Formen der Achtsamkeitspraxis dann nicht sofort erfüllen oder wenn ein angenehmes Gefühl nicht wiederholt entsteht oder wir sogar eher die Unruhe mehr bemerken, die Ungeduld, das Haben-Wollen und so weiter, dann hören wir wahrscheinlich wieder auf damit. Sagen, das sei nichts für uns. Es braucht eine Art von Übung des Geistes und des Körpers, um präsent und gegenwärtig zu sein, um mitzukriegen, was mit dir und anderen los ist. Bei der Achtsamkeit geht es nicht darum, sich *gut* zu fühlen. Es geht darum, sich gut zu *fühlen*, also sich selbst und die eigenen Gefühle wahrzunehmen. Das Leben sowohl in seinen Freuden, aber auch in seinem Schmerz zu erleben. Das ganze Leben eben.
Du bist Experte für Achtsamkeit und auch Systemischer Therapeut und Supervisor. Wie passen denn eine Jahrhunderte alte, buddhistische Lebensphilosophie und eine postmoderne Erkenntnistheorie zusammen?
Zuerst würde ich mich eher als Lernender bezeichnen, als immer Anfänger in dieser Praxis. Und, auch wenn viele Übungen und Arten über den menschlichen Geist nachzudenken sich auf buddhistische Quellen beziehen, finden sich viele Ansichten auch in anderen Religionen oder Wegen der Geistesschulung wieder. Was mir einfällt, ist eine alte Zeile aus dem Lankavatara-Sutra – da heißt es: „Things are not as they seen, nor are they otherwise.“ Die Dinge sind nicht so wie wir sie sehen, noch sind sie irgendwie anders. Wir alle nehmen die Welt wahr. Wir verleihen manchem dann auch einen bestimmten Wahrheitsgehalt. Wir sagen: Das *ist* so. Aber merken wir, dass durch unsere Art, die Welt wahrzunehmen und auf sie zu reagieren, die Welt der Bedeutungen überhaupt erst entsteht? Welche Kraft unsere Interpretationen und Gedanken haben, für unser Miteinander auf der Welt und auch für unsere Existenz?
So könnten wir Achtsamkeitspraxis vielleicht als den Versuch einer sehr sehr praktisch angelegten Epistemologie über den menschlichen Geist beschreiben, wenn wir diesen Aspekt einmal herausgreifen. Auch der Konstruktivismus ist ja eine Erkenntnistheorie. Und die Kybernetik ist ein Versuch, Wechselwirkungen in Systemen zu beschreiben, zur Beobachtung der Beobachtung anzuregen und zu schauen an welchen Stellen wir auch anders denken, anders deuten und vielleicht heilsamer handeln können. Wir wollen das Zusammenspiel aus Sinneseindrücken, Gedanken und deren Wirkungen erfassen, beschreiben und dazu eine bewusste Beziehung entwickeln. Vielleicht *ist* es eben auch nicht so wie wir im ersten Moment urteilen. In unseren sozialen Systemen gehts dann ja oft um andere Menschen oder Gruppen, und für uns selbst können wir neu mit unserem eigenen Körper, mit Gedanken und Gefühlen in Kontakt treten. Auch hier liegt für mich eine Verbindung von Achtsamkeitspraxis und dem Systemischen, wo es ja immer um die Relation geht, nicht so sehr um den Inhalt.
Weil wir vorhin über das Thema Achtsamkeit und Mainstream sprachen: Was, glaubst du, kommt nach der Achtsamkeit?
Ich glaube, wir sind schon in der Zeit nach „der Achtsamkeit“ als Trend und Konzept, das in so vielen Kontexten vorkam in den letzten Jahren. In Supervisionen in klinischen Zusammenhängen schlage ich manchmal vor, eine Gruppe nicht „Achtsamkeitsgruppe“ zu nennen. Manche schreckt dieses Wort mittlerweile auch ab, sie haben Erfahrungen in Kliniken und Therapien damit gemacht, die nicht zu ihrer Lebenswelt passten oder haben versucht etwas durchzuhalten oder im Sinne von Heilung von Beschwerden zu erreichen, was dann eben nicht so angenehm oder ertragreich war, wie gedacht.
Und gleichzeitig ist der Inhalt der Achtsamkeitspraxis seit mehreren tausend Jahren so Halt gebend für viele Menschen. Nach dem Sinn des Lebens und auch des Leidens zu fragen, das Leben zu verstehen und sich selbst darin, das ist, glaube ich, universal und zeitlos. Diese Praxis in der Tiefe zu erleben und kennenzulernen kann eine lebenslange Beschäftigung sein und ich glaube auch nicht, dass die Kraft, die darin für unser westliches Gesundheitssystem zum Beispiel liegt, ausgeschöpft ist.
Ich denke, dass wir damit immer wieder neu anfangen können, uns zu fragen, wie wir uns selbst und anderen helfen können, die Welt und uns offener und bewusster zu erleben. Wie wir uns dazu anstiften können, mitfühlender mit anderen und uns selbst zu sein. Und wie das in unseren Handlungen Ausdruck finden kann. Was wir entscheiden zu tun und zu fördern, in unserem Leben und in der großen, weiten Welt.